Sexueller Missbrauch

Werner hatte eine Schwester, die hatte ein Glasauge und hieß Anita. Anita lebte in dem Appartement neben meiner Mutter und mir. Gegenüber von ihr lebte Werner, in seinem eigenen Zimmer. Bei Anita fand ich Unterschlupf, wenn mir alles zu viel wurde. Sie hatte einen Plattenspieler und ich Schallplatten mit den Erzählungen der Gebrüder Grimm, das passte. Bei Anita konnte ich abtauchen, in meine Welt der Märchen, die irgendwie auch grausam war, aber hier war ich nicht Teil der Geschichte. Werner und meine Mutter wurden ein Paar. Wenn sie miteinander Sex hatten, war ich dabei, weil sie das nicht in seinem Appartement machten, sondern bei uns. Damals war ich fünf Jahre alt. Ich erinnere mich noch daran, dass er neben meinem Bett stand und den Fernseher ausschaltete. Er war nackt und sein riesiger erigierter Penis leuchtete im Dunkeln. Meine Mutter rief dann für gewöhnlich: „Dreh dich um und schlaf!“ Schnitt!

Ich stehe in der Dusche, Werner vor mir, er stülpt sich einen Waschlappen über die Hand und wäscht mich. Er wäscht mich ganz oben zwischen den Beinen und fragt mich, ob mir das gefällt. Es fühlt sich unangenehm an. Ich sage trotzdem Ja, weil ich ihn nicht verärgern will. Schnitt!

Meine Mutter ist nicht zu Hause, sie arbeitet. Gestern hat sie Hühnersuppe gekocht. Werner macht sie warm und bringt mir den Teller an den Tisch. Er verschüttet die Suppe über meine Beine. Sie ist nur lauwarm und rinnt fettig an mir hinunter. Werner macht aus der Situation einen Notfall und sucht eilig nach einem Verbandskasten. Daraus entnimmt er zwei mit Salbe durchtränkte Netze, die man offenbar bei Brandwunden einsetzt. Ich gefalle ihm in den Netzen und soll jetzt vor ihm auf und ab spazieren, wie auf einem Laufsteg. Schnitt!

Meine Mutter hat einen neuen Freund, er wird Kalla genannt, ich bin sechs Jahre alt. Sie hat Sauerbraten, Klöße und Rotkohl gekocht. Ich möchte ihr Fleisch nicht essen, es ist trocken und es bekommt mir nicht. Bei Oma darf ich immer essen, was ich möchte und ich liebe Klöße mit Soße, sonst nichts. Meine Mutter wird wütend, der Freund meiner Mutter wird wütend. Er springt unerwartet auf, greift nach meiner Taille und will mich ins Badezimmer schleppen. Ich habe Todesangst, schreie um mein Leben und kralle mich mit meinen kleinen Fingern am Türstock fest. Meine Mutter klaubt meine Finger vom Rahmen. Er setzt sich auf die Toilettenschüssel und legt mich übers Knie, reißt mir die Hose runter und schlägt hart meine Pobacken. Ich wimmere nur noch. Schnitt!

Meine Mutter ist arbeiten. Kalla hat einen Freund eingeladen. Sie geben mir Weißwein zu trinken. Eigentlich habe ich die Aufgabe zu spülen und das Bett zu machen, aber ich mache nichts davon und erfahre erst Jahrzehnte später, während einer Psychotherapie, was mich daran gehindert hat. Als meine Mutter heimkommt, laufe ich ihr weinend entgegen und entschuldige mich dafür, dass ich betrunken bin. Schnitt!

Ich sitze in der Straßenbahn ganz hinten, dort wo keine Menschen sind. Ich bin 11 Jahre alt und möchte mich mit Freunden im Rheinstadion treffen. Wir verschaffen uns dort unbefugt zutritt und spielen auf den Tribünen verstecken und fangen. Ein Mann steigt ein und setzt sich neben mich. Er schiebt wortlos seine Hand in meine Jogginghose und einen Finger in meine Vagina. Es brennt höllisch. Ich möchte schreien, aber ich schäme mich auch zu Tode. Als die Bahn zum Stehen kommt halte ich es nicht mehr aus, springe auf und renne raus, weg , irgendwohin. Schnitt!

Warum ich euch das erzähle? Weil es an der Zeit ist! Das öffentliche Interesse wächst. Wir wissen heute, dass es täglich 43 neue Kinder gibt, denen so etwas und schlimmeres passiert. Wir wissen von Burbach, von Münster, von Homburg, von Bergisch Gladbach, von Berlin … Die Medien sind voll von diesen Tragödien und damit ihr wisst, welche Tortur es ist missbraucht zu werden, müsst ihr euch mit den Opfern auseinandersetzen, die brauchen euch! Es geht um hilflose Kinder, um Schutzbefohlene, um kleine Menschen, die man eigentlich aufrichtig lieben und behüten sollte. Schlimm das zu lesen? Euch versaut es die Zeit, die ihr euch dem Thema widmet, vielleicht auch ein paar Stunden des Tages, uns jedoch versaut es das ganze Leben. Es ist an der Zeit hinzuschauen. Als ich mit 32 Jahren eine Therapie machte, glaubte ich, ich hätte ganz andere Probleme. Mir war schon mit 23 Jahren bewusst, dass mir schlimme Sachen passiert sind, aber nicht so genau. Die Erinnerungen, die hochkommen, die Scham, das Gefühl es selbst Schuld zu sein, es provoziert zu haben ist unermesslich. Der Ekel auf mich selbst, das scheiß Gefühl, wenn ich Bilder erinnere, die mich erregen, abartig.

Sich selbst akzeptieren, den eigenen Wert finden, zwischen all dem Dreck ist ein lebenslanger Prozess. Ich habe heute noch große Probleme mit Nähe. Wenn mir ein Mitglied meiner Herkunftsfamilie sagt: „Ich hab’ dich lieb.“, Leuten bei mir alle Alarmglocken. Die einzigen Menschen, denen ich das so sehr glaube, dass ich mich damit wohlfühle sind, meine beste Freundin und der Mann, den ich geheiratet habe. Ich habe mehr als ein halbes Leben gebraucht ein wertvolles Leben zu führen, auch weil ich viele Jahre Opfer weiterer Übergriffe und Körperverletzungen war. Heute kenne ich meinen Wert als Mensch und überlege sehr genau wer oder was mir guttut. Sobald ich erkenne, dass das nicht der Fall ist, trenne ich mich, da bin ich absolut rigoros. Es war ein langer Prozess zu lernen, dass ich mich selbst am besten schützen kann, weil ich meine Grenzen am besten kenne und das ist reines Bauchgefühl.

Die Diskussionen über die Täter, wie erkenne ich sie? Wie stigmatisiere ich sie? Führen zu nichts. Die einzige Möglichkeit unsere Kinder zu schützen ist ein höheres Strafmaß und die Aufklärung unserer Kinder. Wir müssen ihnen sagen, dass sie nichts machen müssen, das ihnen unangenehm ist, dass jemand kommen kann, der ihnen Lügen erzählt, um sie zu erpressen. Sie werden unsere Warnungen verstehen. Ich bitte euch wachsam zu werden, alle Erzieher, Lehrer, Eltern, Großeltern und Nachbarn, nur mit eurer Hilfe können wir unseren Kindern dieses lebenslange Drama ersparen.

Marie

 

 

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