Perfektionismus

Perfektionismus

Mein Leben nahm eine Wendung. Ich hatte mich aus einer Partnerschaft befreit, die uns beiden nicht guttat. Es war uns nicht gelungen, dem anderen das zukommen zu lassen, was jeder sich wünschte, liebevolle Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Mein Selbstwert hatte gelitten, ich war voller Selbstzweifel und fühlte mich minderwertig.

Ein neuer Partner und ein neuer gutbezahlter Job sollten mir Sinn und Richtung geben. Mit Schwung stürzte ich mich in einen arbeitsreichen Alltag, stand Rede und Antwort, wann immer das verlangt wurde und übernahm Verantwortung, wo ich konnte. 

Mein neuer Partner monierte mehrfach, dass er das Gefühl habe zu kurz zu kommen, aber ich spielte das herunter. Ich erwiderte sein Bedürfnis nach Nähe sowieso nicht gern und das alltägliche Eingespannt sein schien mir eine gute Ausrede, mich seinen Annäherungen zu entziehen. 

Als er sich kurzfristig für einen anderen Menschen öffnete war ich entrüstet. Fühlte mich betrogen und hintergangen. Er hatte mein Vertrauen missbraucht. Ich bemitleidete mich zutiefst, wie konnte er MIR so etwas antun. Mir die …. Ich suchte nach passenden Antworten, ohne fündig zu werden, redete mir ein besonders zu sein, viel zu gut für soviel Illoyalität und fühlte mich besser. 

Die neue Wohnung wurde die schönste, in der ich je gelebt hatte. Groß, hell und stilvoll. Mein Arbeitgeber stellte mich zunehmend vor neue Herausforderungen. Außer den fünfundzwanzig Mitarbeitern, die ich zu führen hatte unterstellte er mir zwei Lehrmädchen. Delegieren fiel mir schwer, am liebsten sprang ich überall herum und machte alles selbst. Mittlerweile arbeitete ich siebzig Stunden pro Woche und war froh, dass zuhause niemand auf mich wartete, dem ich mich zu erklären hätte. 

Ich fühlte mich wie ein Starkstromaggregat, wog straffe 55 Kilo und lief an meinen freien Tagen zehn Kilometer in 50 Minuten. Gut ich mochte mich nicht besonders, aber meine Leistungen gefielen mir. Ich übertraf mich wöchentlich selbst, setzte noch ein Schüppchen drauf und erfüllte alle Erwartungen, selbst die, die ich nur erahnte. So konterte ich bei jeder Kritik damit, was ich denn noch alles wuppen solle, dass man mehr einfach nicht von einer Mitarbeiterin verlangen konnte.

Als es dunkel wurde, hatte ich längst geahnt, dass das passieren würde. Es war nicht das erste mal. Das zarte Flüstern der Stimme in mir: “Mach mal langsam, pass auf dich auf Marie” habe ich mit meinem Staccato Schritt solange übertönt, bis es dem Rauschen und Piepen in meinen Ohren glich. Die folgenden Krankenscheine verstärkten das bekannte Gefühl der Unzulänglichkeit und Wertlosigkeit. Ich fand mich nicht schön, mochte mich nicht, hatte nur meine Funktionalität und als sie ausfiel, war ich gar nichts mehr wert. 

Ich hatte diesen gesunden Teil in mir übertönt und auch das bagatellisiert, was er mir zu sagen versuchte. Als ich ihn ganz abgespalten hatte, besuchte er mich manchmal noch in Träumen, doch die vergaß ich beim Aufwachen. Damals war es genauso. Wenn ich als Kind ein unangenehmes Gefühl hatte, zum Beispiel Angst, sagte man mir: “Ach Kind, ist doch gar nicht so schlimm.” Ich verstand, dass ich meinen eigenen Gefühlen nicht trauen konnte, sie konnten jeder Zeit falsch sein. So schlimm war es doch gar nicht!

Über ein Jahrzehnt und etliche Irrungen später sitze ich hier und denke darüber nach, wie oft diese innere Stimme mir Kummer hätte ersparen können, wenn ich ihr zugehört hätte. Jetzt erkenne ich, dass sie viel klüger und aufrichtiger ist als ich selbst. Sie weiß, wann ich Zuspruch brauche und wann ich besser verharre und in mich gehe. Und sie kritisiert mich auf eine Art, die mich nicht umbringt. Wir haben zarte Bande geknüpft. 

 

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