Rezensionen Offene See

Offene See von Benjamin Meyers

Autor: Benjamin Meyers, Genre: Fiktive historische Erzählung, Verlag: Dumont, ISBN: 978-3-8321-6598-7, 4. Auflage 2021, 268 Seiten, Preis Taschenbuch €12,00

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

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Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will. (Klappentext)

Einmal möchte Robert dem Ruf des Meeres folgen bevor sein Leben sich, im wahrsten Sinne, verdunkelt. Denn der naturverbundene Robert soll der Familientradition folgen und wie die Männer vor ihm, unter Tage arbeiten. Und so macht Robert sich zu Fuß auf den Weg, ans Meer. Er durchstreift Gegenden und Dörfer, die sich verändern, macht sich mit Hilfsarbeiten nützlich und bekommt dafür etwas zu Essen und einen Schlafplatz. Nur diesen einen Sommer, denkt Robert voller Sehnsucht, danach muss er Geld verdienen, Familie gründen, aber dann, als er der Küste so nah ist, dass er das Meer riecht und die Brandung rauschen hört, lernt er Dulcie kennen. 

Dulcie ist eine ältere, raubeinige Frau. Sie lebt mit ihrem Schäferhund in einem Cottage. Obwohl der Krieg gerade erst vorbei ist, ist Dulcies Speisekammer immer voll. Sie lädt Robert ein, zum Essen bei ihr zu bleiben und während sie gemeinsam Dulcies großartiges Mahl zelebrieren, löst der Wein ihre Zunge und sie erzählt von ihrer Einstellung zum Leben und den Menschen. Zwischen dem jungen Robert und der älteren Dulcie entsteht eine Nähe, die geprägt ist von gegenseitigem Respekt. Und so beschließt Robert vorerst zu bleiben und sich in Haus und Garten nützlich zu machen. 

Während ich jetzt hier am offenen Fenster sitze, ein Glissando von Vogelstimmen auf einer hauchzarten Brise, die den Duft eines letzten nahenden Sommers in sich trägt, klammere ich mich an die Dichtung, wie ich mich ans Leben klammere.  S. 11

Dieser Satz gibt die Atmosphäre der Geschichte gut wieder. Benjamin Meyers schreibt leise, blumig und poetisch.

Fazit: Ich habe selten eine so tiefe Naturverbundenheit erlebt, wie bei Benjamin Meyers. Er erfasst und beschreibt seine Eindrücke mit allen Sinnen. Ich erlebe alles mit, was er sieht, hört, riecht und schmeckt. Der Charakter Dulcies ist so interessant, dass ich fast traurig bin, dass ich sie nie kennengelernt habe. Ein, auf besondere Weise unaufgeregtes Buch, das ich gerne empfehle.

Der Autor: BENJAMIN MYERS, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine literarischen Arbeiten hat er mehrere Preise erhalten. Sein Roman -Offene See- (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2021 erschien -Der perfekte Kreis- (DuMont). Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide 1955 geboren, haben Anglistik in Düsseldorf studiert. Seither arbeiten sie als Übersetzerteam und haben u. a. Dave Eggers, Tana French, Andre Dubus III., Harper Lee, Jeanette Walls, Zadie Smith und Delia Owens ins Deutsche übertragen.

5/5

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