Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

Autorin: Daniela Dröscher, Genre: Fiktive Erzählung, Verlag: Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-00199-0, 5. Auflage 2022, 443 Seiten, Preis Hardcover €24,00
Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.
»Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht?
Schonungslos und eindrücklich lässt Daniela Dröscher ihr kindliches Alter Ego die Jahre, in denen sich dieses »Kammerspiel namens Familie« abspielte, noch einmal durchleben. Ihr gelingt ein ebenso berührender wie kluger Roman über subtile Gewalt, aber auch über Verantwortung und Fürsorge. Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen. (Klappentext)
Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Daniela Dröscher erzählt sie aus Sicht der achtjährigen Ela.
Elas Mutter kommt ursprünglich aus Polen. Sie ist ein resoluter mütterlicher Typ mit Geheimnissen. Ihre Eltern, die 20 km weit wegwohnen unterstützen sie nicht und ihre Schwiegermutter, mit der sie im gleichen Haus im Saar-Hunsrück lebt, konkurriert mit ihr. Ihr Mann hat eine patente Stelle als Ingenieur und wartet vergeblich auf eine bessere Positionierung, die seinen grandiosen, wie verkannten Fähigkeiten besser gerecht würde. Elas Mutter arbeitet nebenbei in einer Lederfabrik und ihr Mann schämt sich dafür.
Solange Ela zurückdenken kann nörgelt ihr Vater an ihrer Mutter rum. Sie ist zu dick, kann nicht mit Geld umgehen, hat keine kreativen Fähigkeiten, um ihr Haus gemütlich herzurichten, die Wahl ihrer Kleider gestaltet sie nachlässig und vor ALLEM schämt er sich für ihr beginnendes Übergewicht. Die ganze Zahl ihrer Unzulänglichkeiten vermiest ihm das Leben, das ihm daher jedes Glück vorenthält
Ela beobachtet die Spiele ihrer Eltern, in denen der Vater versucht die Kontrolle an sich zu reißen und die Mutter, ihrem Bedürfnis es allen recht zu machen, nachkommt. Ela lebt in der Angst, dass ihre Eltern sich trennen könnten. Gleichzeitig schleicht sich etwas an, wie eine Krankheit. Der Blick auf ihre sonst so schöne Mutter verändert sich, sieht, wie sich ihr Bauch unter den Kleidern abzeichnet, spürt, wie ihre Mitmenschen ihre Mutter ansehen und wie unsicher diese selbst zu ihrem Körper steht.
Wohlgestalt bedeutet für ihn Harmonie, Harmonie wiederum Ordnung, Ordnung bedeutet Orientierung, und Orientierung bedeutet Sicherheit. S 66
Eine gute Analyse über die Bedürfnisse ihres Vaters.
In ihrer Fähigkeit zur Sorge bestand und besteht ihr größter gesellschaftlicher Nutzen. S. 286
Damit beschreibt sie ihre Mutter und die Erwartungen an sie vortrefflich.
Fazit: Die Autorin zeichnet ein klares Bild von Geschlechterrollen. Die weiche, empfangende, hingebungsvolle Frau, die jedem gerecht wird, das Haus hütet und jeden umsorgt. Der kampferprobte Mann, der den Säbelzahntiger erlegt, Verantwortung übernimmt und dafür geschätzt werden will. Der Patriarch stellt alles in Frage und verteilt die Aufgaben, die seiner Bedürfnisbefriedigung dienen, streng. Es ist der Autorin großartig gelungen die Schwächen beider Eltern zu zeigen. Die Unsicherheiten ihres Vaters, sein Drang allen gefallen zu wollen. Die Lügen ihrer Mutter, weil sie heimlich Süßigkeiten ist, um ihr Unglücklichsein zu kompensieren. Und mittendrin die kleine Ela, die nicht weiß, wie sie ihre Liebe gerecht verteilen kann. Am Ende eines Kapitels reflektiert die Autorin, versucht zu rekonstruieren und zu verstehen, was hilft die Defizite beider Eltern zu erkennen. Ein absolut lesenswertes Buch, das zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand.
Die Autorin: Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Essays und Theatertexte. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London, Promotion im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam sowie ein Diplom in »Szenischem Schreiben« an der Universität Graz. Ihr Romandebüt »Die Lichter des George Psalmanazar« erschien 2009 im Berlin Verlag, es folgten der Erzählband »Gloria« und der Roman »Pola« sowie das Memoir »Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft« bei Hoffmann & Campe. Sie wurde u.a. mit dem Anna-Seghers-Preis, dem Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds sowie dem Robert-Gernhardt-Preis (2017) ausgezeichnet. Seit Herbst 2018 ist sie Ministerin im Ministerium für Mitgefühl.