Macht von Heidi Furre

Autorin: Heidi Furre, Genre: Psychologische Fiktion, Verlag: Dumont, ISBN: 978-3-8321-8222-9, 1. deutschsprachige Auflage 2023, 174 Seiten, Preis Hardcover € 22,00
Aus dem Norwegischen übersetzt von Karoline Hippe
Liv ist Pflegerin, Mitte dreißig und führt ein scheinbar perfektes Leben in einem Osloer Einfamilienhaus. Sie liebt ihren Mann Terje und ihre beiden Kinder Rosa und Johannes. Aber was kaum jemand weiß, nicht einmal ihr Mann: Liv ist vor Jahren vergewaltigt worden.
Der Gang zum Zahnarzt ist für sie eine Herausforderung, wenn sie nachts von der Bushaltestelle nach Hause läuft, muss sie Terje anrufen. Überall lauert die Angst. Liv bemüht sich, die Oberfläche frei von Kratzern zu halten. Auch wenn sie hinter der Fassade damit beschäftigt ist, ihr Trauma zu bewältigen: Sie will die Opferrolle nicht annehmen. Der Vorfall liegt ein halbes Leben zurück, warum soll er immer noch bestimmen, was sie im Hier und Jetzt tut? Doch als eine neue Patientin ins Pflegeheim eingeliefert wird, deren Bruder vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt worden ist, muss Liv ihr mühsam aufgebautes Leben verteidigen. Bei ihrer Familie und ihrer Freundin Frances findet sie Kraft und Trost: Sie wagt die Konfrontation und übt den Befreiungsschlag – denn sie will unbedingt die Macht über ihr eigenes Leben zurück.
Heidi Furres Roman ist ein Buch mit großer Schlagkraft, ein Text, der sich mit dem Thema sexualisierter Gewalt auseinandersetzt, aber nicht die Tat, sondern die Frau, die sie erlebt hat, in den Mittelpunkt stellt. Eindringlich schildert Heidi Furre das Nebeneinander von Zweifel und Selbstbestimmtheit, Mut und Wut. (Klappentext)
Liv, Mutter zweier Kinder ist fixiert auf ihr Äußeres, auch auf das anderer Frauen. Ihre Obsession begann mit Julia Roberts, in dem Film Pretty Woman. Liv verlässt das Haus nie ungeschminkt, lässt sich die Stirn regelmäßig glätten und besucht regelmäßig ihr Fitnessstudio.
Als das Eklige, das sie von sich fernzuhalten versucht, geschah, war sie Anfang zwanzig. Sie lernte ihn, der “Es” mit ihr gemacht hatte, in einer Bibliothek kennen. Sie tranken Wein, dann mehr Wein und zum Schluss ging sie mit ihm zu ihm, obwohl sie müde war. Hinter ihm ging sie die Stufen hoch, folgte ihm, spürte keinerlei Unsicherheit. In seinem Flur begegneten ihr viele Schuhe und Mäntel, das weckte ihr Vertrauen. “Es” passierte dann nach einer kleine Rangelei, da lag er auf ihr und sie schaute aus dem Fenster und sah den Tauben zu, die sich auf dem äußeren Fensterbrett sortierten. Sie hatte so ein Gefühl, jetzt besser nichts mehr zu tun. Dachte an ihre Kleidung, die zu dünne Strumpfhose, der kurze Rock, ihre Schuhe im Flur, die sich in die anderen eingereiht hatten. Wartete, dass er auf ihr einschlief, eine Ewigkeit.
Liv arbeitet als Pflegerin, sie bekommt eine neue Patientin. Der Besucher der Patientin ist Schauspieler. Liv erinnert sich an die Verhandlung, seine. Er war der Vergewaltigung bezichtigt worden. Sie erträgt seinen Anblick eine Weile, doch dann beschäftigt er sie zunehmend. Wenn er kommt verschwindet Liv im Keller und dreht am Rad. Da unten läuft sie auf und ab, lässt ihre Gedanken Kreise ziehen, bis sie sich mit Benzodiazepinen zudröhnt und die Räume in ihrem Kopf, die sie nie betreten wollte, sich wieder schließen.
Fazit: Ein großer Roman, mit feinem Ausdruck. Die emotionalen und mentalen Nuancen fließen ineinander. Die Protagonistin schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung, nicht zu zerbrechen, kein Opfer zu sein, ihren Ängsten, die in der Dunkelheit größer werden und ihren Selbstzweifeln, ob sie sich mitschuldig gemacht hat, weil sie zu vertrauensvoll war. Jeder Tag ihres Lebens kreist um diesen Vorfall, der nie passiert wäre, wäre diese Welt ein besserer Ort. Tatsächlich stößt einer von zehn Frauen “Es” zu. Dieser gelungene Roman macht sehr deutlich, dass ein Trauma, das unbehandelt, unverarbeitet bleibt, weiterschwelt, irgendwann getriggert wird, in alle Richtungen wächst und das Leben in einem Maße erschwert, das kaum auszuhalten ist.
Die Autorin: Heidi Furre, geboren 1985, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht. “Macht”, ein NORLA-Empfehlungstitel 2021, ist der erste, der auf Deutsch erscheint. Heidi Furre arbeitet als Fotografin und lebt in Oslo.