Rezensionen Die Möglichkeit von Glück

Die Möglichkeit von Glück von Anne Rabe

Autorin: Anne Rabe, Genre: Literarische Fiktion, Verlag: Klett-Cotta, ISBN: 978-3-608-98463-7, 4. Auflage 2023, 380 Seiten, €24,00

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In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.

Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt. (Klappentext)

Anne Rabe gibt dem jungen Mädchen Stine ihre Stimme als Ich-Erzählerin. Stine ist 1986 in der Ex-DDR geboren. Sie ist etwas älter als ihr Bruder Tim. Ihre Mutter ist Erzieherin, eine robuste, resolute Frau, die im Zweifelsfall Kopfnüsse als bewährte Erziehungsmethode verteilt. Wenn sie wütend ist, was niemand vorhersehen kann, schickt sie ihre beiden Kinder auch schonmal in die brüllend heiße Badewanne. 

Stine lernt frühzeitig Erniedrigungen, Demütigungen und Gewalt als gegeben hinzunehmen. In der Schule üben ihre Lehrer Macht aus und hacken auf ihren schwächsten Schülern rum. Stine versucht in der Mitte mitzuschwimmen, um nicht besonders aufzufallen, aber eben auch nicht unterzugehen. 

Das ganze System scheint irgendwie zerrissen. Stine gehört zu den Privilegierten weil ihre Eltern parteizugehörig waren. Ihre Freundin Ada nicht, deren Eltern waren religiös und wurden schikaniert, schon bevor sie das System zum Sturz brachten. Obwohl sie den Privilegierten damit die Freiheit schenkten. Denen, die es sowieso leichter haben würden, weil sie studiert hatten und sich viel besser anpassen konnten. Stine hingegen fühlte sich nirgendwo zugehörig, Adas Eltern verachteten sie. 

Stine hat eine feine Verbindung zu ihrem Großvater Paul. Als Erwachsene geht sie auf Spurensuche, sie will wissen wer er war, auf welcher Seite er stand, auch wenn einer seiner meisten Sätze: “Nie wieder Faschismus war!”

Alle finden die Nazis schlimm, aber niemand glaubt, dass seine Familie dazugehörte, alles Opfer, oder Widerständler.

Stines Nachforschungen führen sie in den 2. Weltkrieg. Sie entwickelt eine ganz eigene Vorstellung davon, was die Menschen in dieser Zeit erlebt haben müssen, die man uns im Geschichtsunterricht so nicht vermittelt hat. Recherchiert weiter und begegnet den unfassbaren Kriegsverbrechen. Sie erinnert die ganze Gewalt, die ihr durch ihre Mutter und Mitschüler widerfahren ist. Die Glatzen, die es schon vor dem Mauerfall gegeben hat, die mit den weißen Schnürsenkeln am Springerstiefel, die echten. Überall wurde sich ins Koma gesoffen, nur vergessen, was man erlebt hat müssen, weil einen niemand beschützt hat. 

Fazit: Anne Rabe hat ein eindringliches Stück Vergangenheitsbewältigung geschaffen, das den Appell enthält, zu verstehen und besser zu machen. Es ist eines der mutigsten Bücher, das ich gelesen habe, weil Anne Rabe so wichtige Themen wie Gewaltentstehung aus Traumata enttabuisiert und unsere “westdeutsche” wenig geistreiche Haltung entzaubert, die gerne so tut, als hätte der Aufstieg der AFD so gar nichts mit uns zu tun und sei ein rein “ostdeutsches” Problem. Auch diese Geschichte hat es völlig zurecht, auf die Shortlist des deutschen Buchpreises geschafft. Und ich empfehle sie unbedingt weiter. 

Die Autorin: Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie »Warten auf-n Bus«. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. »Die Möglichkeit von Glück« ist ihr Prosadebüt.

5/5

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