Schreibtisch Literarisches Journal 2023

Schwarzmeerperle

Nicht frei von Bekümmerung wuchs ich auf, eher mit dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, denn ich war die Erstgeborene. Der Bruder, den ich allzu gerne knuddelte und zurückhaltend foppte, war an Polio erkrankt gewesen und zog ein Bein hinter sich her. Das linke endete in einem Fuß, dessen Zehen wie eine Faust geschlossen war. Kein Schuh dieser Welt saß so, dass er ein schmerzfreies Laufen ermöglichte.

Babuschka erzählte uns vor dem Einschlafen die Geschichten unserer Ahnen. Hoch zu Ross waren sie dahergekommen, hatten sich schreiend auf die Barbaren gestürzt und ihnen mit ihren Säbeln die Köpfe abgeschlagen. Niemand konnte die stolzen Krieger besiegen, die am Rand der Steppe patrouillierten.

Babuschka gab mir den Namen Irina, die Stolze, denn was könnte besser sein, als der Welt erhobenen Hauptes entgegenzutreten. Die innere Stärke ist das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet.

Mein Land ist das schönste, das ich je gesehen habe, wenn ich auch sonst nirgends war. Bergketten, aneinander gereihte Felsen, dicht bewachsen von dunkelgrünen Tannen, wechseln mit kargeren Gefilden, wo pinkfarbene Azaleen blühen. Dunkelblaue Gebirgsseen wecken in den Touristen das Bedürfnis, einzutauchen in kühle, erfrischende Wogen. Hafenstädte reihen sich geduldig am schwarzen Meer, aber auch die zerklüfteten Tagebauebenen oben am Donbass haben ihren Reiz.

Wenn ich meinen Blick von Odessa aus schweifen lasse, sehe ich die grünen Weizenfelder, die die Sommersonne in beigegelbe Ähren verwandeln wird, und darüber den strahlend blauen Himmel.

Vor acht Jahren nahmen Vater und ich den Bus und fuhren die holprige Hauptstraße nach Kiew zu Freunden. Wenige Kilometer vor unserem Ziel wurden wir durch Straßensperren angehalten. Ukrainisch sprechende Männer kontrollierten uns. Sie gaben uns Handzettel, bevor sie uns weiterfahren ließen. Wiktor Janukowytsch hatte sich geweigert, einen Vertrag zu unterzeichnen, der uns Europa näher brachte denn je. Für uns war das, nach Jahrhunderten der Unterjochung durch Russland, Polen oder Litauen, so unverständlich, wie das bizarre Rauschen eines alten Transistorradios ohne Empfang.

In der Wohnung unserer Freunde sprachen wir über die Ereignisse, die so viele Menschen auf dem Maidan-Platz zusammenbrachten. Was wir am nächsten Morgen sahen, war kaum zu glauben. Menschen standen Schulter an Schulter, die Köpfe in die Luft gereckt lauschten den Rednern, die in Mikrofone sprachen. Wir gesellten uns dazu und sangen voller Inbrunst unsere Nationalhymne. Tausende von Menschen schwangen Fahnen in gelb-blau.

In diesem Januar 2014 war es bitterkalt. Freiwillige Helfer hatten um den Platz herum Stationen aufgebaut. Über mehreren Feuern brodelte eine Suppe aus Karotten und Mais in Tomatensoße. Ich bekam einen Teller und wärmte mir den Bauch. Sie gaben uns warme Getränke und ich legte meine tauben, weißen Finger um den dampfenden Becher. Gegen Abend umrundete ein Taxikorso laut hupend den Platz. Wir schrien, hüpften auf der Stelle, hoben unsere Hände über den Kopf und klatschten. Wir hielten uns an den Händen und feierten unseren größten gemeinsamen Wunsch, den Präsidenten stürzen zu sehen.

So ging es viele Tage lang. In der Mitte des Monats Februar mischte sich ein rauer Unterton in die Stimmung. Zuerst klaubten vereinzelt junge Männer Verbundsteine vom Boden auf und warfen sie auf die Polizisten am Rand.

Unruhe entstand. Wenige Stunden später schleuderten sie brennende Flaschen auf die Sicherheitskräfte, steckten Autoreifen in Brand und warfen Einsatzfahrzeuge um.

Die Männer des Präsidenten droschen mit ihren Stöcken auf alles ein, was sich bewegte. Die Menge preschte auseinander und Menschen taumelten blutüberströmt, die Arme um den Kopf gelegt, um weitere Schläge gegen Nase, Ohren und Schläfen abzuwehren.

Die nächsten Tage musste ich allein in der Wohnung von Olga und Andrej verbringen. Als sie zwei Tage später in mein Exil zurückkehrten, weinte Olga.

„Was ist los?“, fragte ich und stürzte ihr entgegen.

Andrej sah mir in die Augen, sein Blick war leer, wie

ein Zug ohne Menschen.

„Sie haben auf ihn geschossen!“

Noch bevor mein Gesicht glühend heiß wurde, schlug mein Herz bis zum Hals und presste Blut in die Schläfen. Der Druck in meinem Kopf ließ mich in die Knie gehen.

„Ist er tot?“

„Ja.“

Ich glaubte es nicht, musste ihn sehen, anfassen, ihn ansprechen.

Er war schon heute Morgen in ein Krankenhaus gebracht worden. Zwei Kugeln hatten seine Lunge durchbohrt und ihn ersticken lassen, bevor Hilfe kam.“

Ich stand auf und ging in das Zimmer, in dem wir geschlafen hatten, nahm eins seiner Hemden, setzte mich auf den Boden, atmete seinen Geruch ein und schaukelte hin und her. Obwohl das ganze schwarze Meer aus meinen Augen tropfen wollte, blieben sie so leer, wie Andrejs Blick.

Die traurige Sprachlosigkeit der beiden, mir wurde so eng um die Brust, dass ich nach Hause fuhr.

Babuschka wusste es bereits. Ihr Gesicht, das sonst von roten Wangen belebt war, hatte die Farbe von Asche angenommen. Die feinen Fältchen in den Augenwinkeln waren weggewischt. Stattdessen trug sie jetzt tiefe Furchen auf Nasenwurzel und über den Mundwinkeln.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich sie.

Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Vielleicht haben wir Glück und du kannst in der Bar

 anfangen, in der dein Vater gearbeitet hat“.

Am folgenden Tag sprach ich mit dem Besitzer und er ließ mich Probe arbeiten.

An der Theke lernte ich den alten Schuster Pawlow kennen. Er trank jeden Abend eine Flasche Bier und bezahlte genau einen halben Kopiyok zu viel. Ich polierte Gläser, während ich ihn beobachtete.

„Wie heißt du?“

„Irina.“

„Schön. Weißt du Irina, während des Zarenreichs war nicht

 alles schlecht.“

„Hm …“

„Katharina die Große gab uns ein Theater, und was für eins.“

„Ja.“

„Und einen prächtigen Garten, voller Symmetrie.“

„Die Katakomben unter der Stadt entstanden während des

 Theaterbaus, Sandstein.“

Ich schweifte ab und sah die Tunnel und Gänge. Ein Labyrinth, dass die Stadt von Osten nach Westen durchzog.

Ein junger Mann winkte mir. Er bestellte eine Cola und leerte sie in einem gierigen Zug.

„Bist du die Tochter von Sergej?“

Tränen schossen mir in die Augen.

„Es tut mir sehr leid, was euch passiert ist.“

Ich drehte mich um und lief zur Toilette.

Pietro kam jeden Abend in die Bar, er mochte die Thesen von Lenins Freund Trotzki. Früher war er Pro Russisch gewesen, aber heute verabscheute er Putins Führung. Die unrechtmäßige Annexion der Krim nahm er ihm übel. Sein Bruder lebte dort, aber er konnte ihn nicht mehr besuchen. Wer ein Visum für die Krim hatte, durfte nicht wieder in die Ukraine einreisen. Dennoch strahlte Pietro eine Freude aus, die mir unter die Haut ging. Er trat kraftvoll für Frauenrechte und das Wohl der Tiere ein. Knietief versank er in seiner Arbeit für die unabhängige Gewerkschaft.

 

„Irina wach auf!“, rief Mutter.

„Sie haben Mariupol angegriffen.“

Schlaftrunken reibe ich mir die Augen, unsicher, ob ich sie richtig verstanden habe, oder noch träume.

 Wir laufen auf die Straße und sprechen mit den Nachbarn. Sie sind von Russland aus bis Tschernobyl vorgedrungen, jetzt Mariupol. Wir hören Einschläge außerhalb von Odessa. Aufgebracht reden wir durcheinander, wie ein flatternder Hühnerhaufen, wenn der Fuchs heranpirscht.

Ich renne zur Bar. Sie ist geschlossen, vor Fenster und Türen sind Bretter genagelt.

Wieder zuhause sitzt Mutter vor dem Fernseher, den Kopf in Hände gestützt, die ihren Mund verschließen. Ich sehe Wolodymyr Selenskyj zur Nation sprechen:

“Wir tragen eine große europäische Sehnsucht in uns. Wir wollen Freiheit, und wir sind bereit, für sie zu kämpfen.“

 

„Ich werde mit deinem Bruder weggehen, Irina.

 Willst du mitkommen oder bleiben?“

Ich weiß, dass ich bleibe. Ich verlasse dieses Haus nicht, das durchdrungen ist von den Erinnerungen an meinen Vater.

Auf der Deribassow Straße bauen sie Panzersperren auf. Die Boutiquen sind geschlossen. Durch heruntergelassene Rollgitter erhasche ich einen Blick auf ein Gucci Kleid und eine Prada Handtasche. Duc De Richelieu, die große Bronzestatue, ist unter Sandsäcken begraben, ebenso wie das Theater. Niemand ist zu sehen. Die üblichen Luxusdampfer im Hafen, die hunderte Menschen ausspuckten, sucht man jetzt vergeblich. Heute liegen dort Getreidefrachter, die nicht auslaufen dürfen. Russische Sanktionen.

Ich treffe Pietro im Stadtpark, er ist auf dem Weg zu den Milizen Gruppen, die ihm das Schießen beibringen. Ich gehe mit ihm. Dort treffen wir zwanzig Leute, die dem Gruppenführer gebannt zuhören. Er lädt sein Gewehr, entsichert, legt an, zielt, legt ab und sichert. Er gibt Pietro seine Waffe, der reicht sie an mich weiter. Ich entsichere, lege an, sehe durch das Fadenkreuz die Zielscheibe. Ich ziele und ziehe den Abzug. Der Rückschlag trifft mein Schlüsselbein hart und wirft meinen Oberkörper zurück. Der Knall macht mich für einen Moment taub.

Ich bin mir sicher, dass ich sie töten werde, wenn sie kommen.  

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