Rezensionen Risse

Risse von Angelika Klüssendorf

Autorin: Angelika Klüssendorf, Genre: Biografische Fiktion, Verlag: Piper, ISBN: 978-3-492-05991-6, 2. Auflage 2023, 170 Seiten, Preis Hardcover €22,00

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Eines der wenigen Fotos, die es von mir gibt, habe ich selbst in einem Fotoatelier aufnehmen lassen. Es war kurz nach meiner Ankunft auf Usedom bei meinem Vater gewesen. Ich hatte mir das erste Mal meine Haare bei einem Friseur schneiden lassen, ich trug ein gestreiftes Kleid mit einem dunklen Kragen, ein Geschenk meiner Stiefmutter. Ich erinnere mich, wie ich dastand, ein Bein vor das andere geschoben, und ein Lächeln, von dem ich annahm, es gehöre auf ein Foto.
Wenn ich das Bild heute betrachte, sehe ich Freude und Erwartung des Sommers in meinem Gesicht. Es ist ein Beweisfoto, dass es mich gibt und mir ein schönes Kleid zusteht, obwohl ich ebenso die Vorahnung erkenne: Diesem scheinbar verlässlichen Augenblick nicht zu trauen, doch da ist auch der Wille, Wünsche und Begehren einzufordern, und die Frage: Wie könnte es aussehen, ein mir gemäßes Leben? (Klappentext)

Die namenlose Ich-Erzählerin hat einen Vater, den schönen Egon, der ist 27 Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter und malt Ölbilder vom Meer. Die Mutter ist schwer alkoholabhängig und 17 Jahre alt, als sie das Mädchen bekommt. Indem Elternhaus des Mädchens herrscht die Gewalt vor. Der schöne Egon versäuft das Geld, das die Mutter beim Kellnern erwirtschaftet. Sie bunkert es im Küchenschrank, doch er findet es und haut ab, macht Urlaub auf Usedom und hält Frauen aus, bis das Geld aus ist. 

Die ersten Lebensjahre des Mädchens verbringen die Eltern im Gefängnis, weil sie sich angeblich der Spionage schuldig gemacht hatten. Irgendjemand vom Staatssicherheitsdienst im Osten Deutschlands hat sie angeschwärzt.

Der Vater heiratet wieder und macht sich auf Usedom mit einem Tanzlokal selbständig. Er erhält das Sorgerecht für das Mädchen. Ihre neuen Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, das Mädchen bleibt sich die meiste Zeit selbst überlassen und baut keine Beziehung zum schönen Egon auf. Sie findet eine Freundin, die 14 ist, drei Jahre älter als sie selbst, mit der will der Vater allein sein, deshalb wartet das Mädchen draußen.

Fazit: Ich will über die Geschichte gar nicht mehr verraten. Eines ist sicher, sie zu lesen tut weh. Was die Protagonistin mit ansehen muss, wie abartig die Erwachsenen sich um sie herum benehmen, ist für mich, als Außenstehende schwer zu ertragen. Es geht um Co-Abhängigkeit, Narzissmus, Gewalt, Vernachlässigung und emotionalen Missbrauch. Wieder lese ich eine Geschichte, die vom Osten Deutschlands handelt und wieder stolpere ich über diese emotionale Kälte, die pathologisch ist. Erwachsene schaden minderjährigen Schutzbefohlenen (ihren eigenen Kindern) und es macht ihnen nicht das geringste aus, sie haben keinerlei Unrechtsbewusstsein. 

Zum Ende der Geschichte kann ich nicht mehr so recht folgen. Die Autorin lässt ihre Protagonistin etwas erzählen, das erfunden ist, ich verstehe nicht warum und bin raus. Mir wird dennoch klar, warum Risse auf die Longlist des deutschen Buchpreises kam. Die Geschichte hat es absolut verdient, sie sollte gelesen werden.

Die Autorin: Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie »Das Mädchen«, »April« und »Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres jüngsten Romans »Vierunddreißigster September« stand auf der Longlist des Prix Femina 2022.

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