Rezensionen Der Junge Mann

Der Junge Mann von Annie Ernaux

Autorin: Annie Ernaux, Genre: Autobiografische Erzählung, Verlag: Suhrkamp, ISBN: 978-3-518-43110-8, 1. deutschsprachige Erstausgabe 2023, 41 Seiten, Preis Hardcover €15,00

Aus dem Französichen von Sonja Finck

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Sie ist Mitte fünfzig und beginnt ein Verhältnis mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann. Einem Studenten, noch dem Milieu verhaftet, aus dem sie sich emanzipiert zu haben glaubt. Er verlässt die gleichaltrige Freundin und liebt sie mit einer Leidenschaft wie keiner zuvor. Entrückte Tage und Nächte in seinem kargen Zimmer, Matratze auf dem Boden, löchrige Wände, defekter Kühlschrank. Doch die intime Episode ist zugleich etwas Politisches, auf der Straße, in den Restaurants und Bars: fast ständig böse Blicke, wütende Reaktionen. Sie ist wieder das »skandalöse Mädchen« ihrer Jugend, nun aber ganz ohne Scham, mit einem Gefühl der Befreiung. Irgendwann erträgt er ihre frühere Schönheit nicht mehr, und sie erlebt bloß noch Wiederholung, obwohl er »ihr Engel ist, der die Vergangenheit heraufbeschwört, sie ewig leben lässt«. Und was heißt das für die Zukunft?
Annie Ernaux bricht ihr letztes Tabu – radikal pointiert und prägnant erzählt sie von einer skandalösen Liebesbeziehung, einer ambivalenten Rückkehr in die eigene Vergangenheit und der triumphalen Überwindung einer lebenslangen Scham. (Klappentext)

Die beiden, gefangen in einem Alltag aus verfrühtem Zusammenziehen und Prüfungsstress, hatten sich nie vorgestellt, dass Sex auch etwas anderes sein kann als die mehr oder minder aufgeschobene Befriedigung des Begehrens. Eine Art kontinuierlicher Schaffensprozess. Seine Leidenschaft angesichts dieser Neuentdeckung band mich immer mehr an ihn. S. 10

Soviel zu den Gründen, warum sich zwei vom Alter her so unterschiedliche Menschen voneinander angezogen fühlen können. 

Nachdem A. der junge Mann eine Affäre mit der Autorin Annie Ernaux angefangen hatte, trennte er sich von seiner Freundin. Annie verbringt ab dann die Wochentage mit ihm in seiner Wohnung und sie lieben sich. Das Zimmer, in dem sie die meiste Zeit auf zwei Matratzen verbringen, entwickelt am Abend eine besondere Stimmung. Hier sieht Annie von seinem Fenster aus die Klinik, in die sie als Studentin, vielleicht so alt wie ihr Geliebter, einmal gegangen war, wegen starker Blutungen nach einer heimlichen Abtreibung. Diesen Umstand, von hier auf das Gebäude schauen zu können, findet sie so unerhört, dass sie ihrer Beziehung einen tieferen Sinn attestiert. 

Und dann beginnt Annie Ernaux ihr Leben zu analysieren. Sie vergleicht sich mit ihm, findet in ihm das proletenhafte, das allen anhaftet, die in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, so wie sie. Neben ihrem Ehemann hatte sie sich wie eine Proletin gefühlt, neben A., wie eine Bildungsbürgerin. 

Er war die verkörperte Vergangenheit. S. 21

Das erste Staunen über die Blicke ihrer Mitmenschen in den Cafés, weicht einer Gewissheit und Sicherheit, dass sie lieber in das Gesicht dieses jungen Mannes sieht, als in das Zerknitterte eines Gleichaltrigen. Die Frauen ihres Alters, die diskret mit ihm flirten, weil sie ihre Stellung auf dem Beziehungsmarkt kennen, sind ihr lieber als die jungen, die so tun, als sei sie gar nicht da.

Fazit: Die Autorin erzählt ihre eigene Geschichte mit ruhiger nüchterner Stimme. Aus ihr spricht die Erfahrung einer reifen abgeklärten Frau, die ihre Vergangenheit verstanden hat und nicht mehr hinterfragen muss. Wenn ich in ihrem Buch „Die Scham“ ihre distanzierte Erzählweise nicht mochte, so gefällt sie mir hier. Hier habe ich ihr gerne zugehört.

Die Autorin: Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, 2022 den Nobelpreis für Literatur.

5/5

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