Rezensionen Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauffletscht

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauffletscht von Julia Jost

Autorin: Julia Jost, Genre: Coming-of-Age, Verlag: Suhrkamp, ISBN: 978-3-518-43167-2, 1. Auflage 2024, 232 Seiten, Preis Hardcover €24,00

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»Ein reiches und reichhaltiges Buch. Diese heitere Bösartigkeit führt vielleicht zur Verbesserung der Welt oder ins nächste Wirtshaus.« Elfriede Jelinek
Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuß der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die ausschließlich eines im Kopf hat – bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.
Julia Jost schildert in ihrem Debütroman das Aufwachsen in einer archaischen Bergwelt zwischen Stammtisch und Beichtstuhl – und wie man hier als querstehendes Kind überlebt und sich der vorgegebenen Ordnung widersetzt: dank einer zärtlichen Freundschaft und durch ein wildes, überbordendes Erzählen, das die Wirklichkeit besser macht, als sie ist. (Klappentext)

Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. Fort von der schönen Luca, die ihr den Rücken zugedreht hat und in ihrer eigenen Landessprache langsam rückwärts zählt. Die Beine der Mutter schreiten großschrittig an ihrem Versteck vorbei, um hier und da einzugreifen, zu korrigieren, sich aber auch auf die Stufen zu setzen und zu stöhnen.

Sie erinnert ein Klassenfoto von neunzehnhundertneunundachtzig, da war der Franzi noch dabei. Zuerst hatte sie ihm eine gepatscht, weil er was blödes zu ihr gesagt hatte. Dann war ihr schlechtes Gewissen so groß, dass sie ihn zum Waldhaus eingeladen hatte. Dort hatte er sich bereit erklärt, sich Kopfüber in den Brunnen zu wagen, während die anderen Kinder ihn abseilten. Dann kam das Seil ohne den Franzi wieder nach oben und sie mussten die Feuerwehr rufen. 

Sie hört Luca immer noch zählen und sieht jetzt außerdem, aus ihrer Position, die krampfadrigen Beine der Stubenhofoma das Gatter passieren. Man sieht ihr die schlechte Laune gleich am Gangbild an und da schimpft sie auch schon auf die Mutter und ihre Geldgier, weil sie den Hof verkauft hat.

Die Stubenhofoma, heute zu alt um die Tochter zu watschen, ist mit ihrem fahlen Gesichtsausdruck, die Wurzel der Aversion ihrer Enkelin. S. 36

Im Religionsunterricht hatte sie erfahren, dass das Rotkehlchen ja deswegen die rote Brust habe, weil es bei dem Herrn Jesus am Kreuze verweilt hatte und ein Blutstropfen, der sich, wegen der Dornenkrone von dessen Stirn gelöst hatte, das Rotkehlchen traf.

Fazit: Diese Scharade auf ein Dorf in Österreich hat mir so gut gefallen. Julia Jost macht sich Luft, lässt alles raus. Sie erzählt über die menschlichen Abgründe, die sich in einem Dorf nicht so gut verheimlichen lassen, wie in der Anonymität einer Stadt. Pädophilie in der katholischen Kirche, Homophobie der Dorfbewohner, Bigotterie und Faschismus. Und in all diesen Untiefen, findet ein junges Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre, ihren Sinn des Lebens. Die Geschichte ist so lustig und bissig erzählt, dass ich sie als Satiere verstehe. Ein wirklich gut gelungenes Debüt. 

Die Autorin: Julia Jost, geboren 1982 in Kärnten, Österreich, studierte Philosophie, Bildhauerei und Theaterregie. Sie arbeitete als Regisseurin und Dramaturgin in der freien Szene sowie u. a. am Thalia Theater Hamburg. 2019 wurde sie für einen Auszug aus Wo der spitzeste Zahn der Karawanken … mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Ihr Theaterstück ROM feiert im April 2024 am Volkstheater Wien Premiere. Julia Jost lebt in Wien und Berlin.

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