Rezensionen Wo die Geister tanzen

Wo die Geister tanzen von Joana Osman

Autorin: Joana Osman, Genre: autofiktionale historische Erzählung, Verlag: C. Bertelsmann, ISBN: 978-3-570-10522-1, 1. Auflage 2023, 220 seiten, Preis hardcover €24,00

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Drei Generationen, verbunden durch die tiefe Sehnsucht danach, Wurzeln zu schlagen – in ihrem großen Roman erschreibt sich Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte
Sabiha und Ahmed sind fest verwurzelt in ihrer Heimatstadt Jaffa. Hier eröffnen sie ein eigenes Kino, um in der letzten Reihe bei Filmen mit Shirley Temple zu weinen, und ziehen ihre Söhne groß. Doch 1948, mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg und schließlich der Gründung Israels, beginnt für die Familie eine Odyssee. Sie fliehen in den Libanon und weiter in die Türkei, stets auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Sie leben in Abbruchhäusern und werden von keinem Staat anerkannt. Sie trauern um die Verstorbenen und verlieren doch nie die Lust am Leben und erst recht nicht ihren Humor.

Siebzig Jahre später begibt sich Joana Osman in Israel auf Spurensuche. Wer waren ihre Großeltern, die ihren Vater auf der Flucht großzogen? Was war das für eine Reise, die auch ihr eigenes Aufwachsen so stark und doch so unsichtbar geprägt hat.

Fiktion und Autofiktion verschwimmen in diesem Roman, in dem Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte vor dem Vergessen rettet. Voller Fantasie und hinreißendem Witz lässt sie die Geister der Vergangenheit tanzen. (Klappentext)

Die Ich-Erzählerin ist etwas neidisch auf ihre Cousine Zeynep, die Exilpalästinenserin. Zeynep wird wegen ihres Hippieoutfits stets durch die Kontrollen durchgewunken, ganz anders als Joana Osman.

Jedes Mal, wenn ich nach Israel einreise, werde ich von einem Sicherheitsbeamten in einen fensterlosen Raum geführt und nach allen Regeln der Kunst verhört, weil sie hier noch immer nicht glauben können, dass eine Frau mit deutsch-palästinensischen Wurzeln nach Israel reist, um in Schulen und Universitäten über Frieden zu reden. S. 15

Die Autorin macht sich auf die Suche, hofft die Geschichte ihrer Familie zu verstehen und, warum sie sich so zu Israel, diesem fruchtbaren Land hingezogen fühlt.

1948 verlassen die Briten desillusioniert das Gebiet und geben an die UNO ab. Zwischen Israel und Palästina bricht Krieg aus, bei dem 170.000 Palästinenser vertrieben werden. Die Juden riegeln Jaffa ab und umzäunen das ganze Gebiet mit Stacheldraht und erklären ihre Unabhängigkeit. Einen palästinensischen Staat hatte es nie gegeben. An Nakbah (arabisch) = Die Katastrophe ist Dreh- und Angelpunkt des israel-palästinensischen Gesamtproblems. 

Die Ahnen von Joana Osman gehen nach Beirut, aber dort findet ihr Großvater Ahmed keine Arbeit, weil er keinen Pass hat. Ahmed irrt im weiteren Verlauf der Geschichte , mit seiner Familie, die wächst, in die Türkei, wo er für kurze Zeit Arbeit findet. 

In der Hauptsache waren alle arm, vor allem in der Diaspora. Von März bis Oktober stand die Hitze in den Gassen von Beirut, ballte sich heiß und drückend an Hausecken und über Abfallhaufen zusammen um die letzten Sauerstoffmoleküle aus der Luft zu saugen, bis einem das Denken so schwerfiel wie das Atmen. S. 33

Im Grunde ist die Geschichte aller Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, eine traurige, weil sie überall nur geduldet werden und nirgends ankommen können. Und alle tragen die Geister derer in sich, über die nicht gesprochen wird, weil das darüber sprechen ihre Körper durchschüttelt und beben lässt. So ziehen die Verstorbenen, die ausnahmslos Opfer eines verrückten Kriegs waren, durch ihre Leben und manifestieren sich durch Traurigkeit, Schlaflosigkeit und quälende Scham.

Das Trauma ist sichtbar in unserer Art uns zu bewegen – mühevoll, als fehlte uns der innere Schwerpunkt. Das Trauma ist spürbar in der Art, wie wir uns immer ein wenig verloren und verlassen fühlen und stets nach einem Mittelpunkt suchen, nach einer Heimat, einem Zuhause, nach Geborgenheit. S. 185

Fazit: Eine erschütternde Geschichte über den schwelenden und immer aufs Neue eskalierenden Nahostkonflikt, die mit großer Leichtigkeit erzählt und an den richtigen Stellen großzügig mit Humor gewürzt wurde. Das Buch passt so ungeheuer gut in diese Zeit, weil es mir, als außenstehende Europäerin das ganze Ausmaß von An Nakbah (die Katastrophe) nachebringt. Die Autorin klagt niemanden an, sondern zeigt, wie sich die Dinge so entwickeln konnten und erlaubt sich, ein Mahnmal zu setzen, das für Vernunft und den Willen zum Frieden plädiert. Ich möchte dieses Buch nicht empfehlen, ich möchte Euch bitten, es zu lesen.

Die Autorin: Joana Osman, geboren 1982, ist die Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter. Sie studierte Amerikanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und war 2012 Mitbegründerin der Friedensbewegung »The Peace Factory«. Ihr Debütroman »Am Boden des Himmels« erschien 2019. Joana Osman arbeitet als Autorin, Dozentin und Storytelling-Coach und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

 

 

 

 

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