Rezensionen Die Zeit der Verluste

Die Zeit der Verluste von Daniel Schreiber

Autor: Daniel Schreiber, Genre: Sachbuch Autobiografisches Essay, Verlag: Hanser Berlin, ISBN: 978-3-446-27800-4, 1. Auflage 2023, 139 Seiten, Preis Hardcover €22,00

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Nach seinem Bestseller „Allein“ geht Daniel Schreiber nun der Frage nach: Wie lässt sich ein Leben in Zeiten um sich greifender Verluste führen?
Nichts möchten wir lieber ausblenden als die Unbeständigkeit der Welt. Dennoch werden wir immer wieder damit konfrontiert. Wie gehen wir um mit dem Bewusstsein, dass etwas unwiederbringlich verloren ist? In seinem neuen Essay nimmt Daniel Schreiber so hellsichtig und wahrhaftig, wie nur er es kann, eine zentrale menschliche Erfahrung in den Blick, die unsere Gegenwart maßgeblich prägt und uns wie kaum eine andere an unsere Grenzen bringt: den Verlust von Gewissheiten und lange unumstößlich wirkenden Sicherheiten. Ausgehend von der persönlichen Erfahrung des Todes seines Vaters erzählt Daniel Schreiber von einem Tag im nebelumhüllten Venedig und analysiert dabei unsere private und gesellschaftliche Fähigkeit zu trauern – und sucht nach Wegen, mit einem Gefühl umzugehen, das uns oft überfordert. (Klappentext)

Daniel Schreiber erwacht in seinem Gästezimmer des Palazzo, schaut durch das kleine Fenster auf den Rio de San Polo und empfindet tiefe Trauer. Der Tod seines Vaters verstärkt die vielen anderen Verluste, die er in den vergangenen Jahren erlebt hat. 

Ich möchte niemanden überfordern, auch wenn das bedeutet, mit dem tatsächlichen Ausmaß meiner Gefühle hinter dem Berg zu halten. Ließe ich ihnen freien Lauf, würden sie jede Form sozialer Verträglichkeit sprengen. S. 28

Daniel Schreiber ist in einem winterlichen Venedig, während er diese Worte schreibt. Welche Stadt, als diese, dem Tod geweihte, könnte besser als Kulisse dienen, als Venedig? 

Möglicherweise gehört es einfach zum Wesen der Stadt, dass sie einen dazu zwingt, die Kontrolle abzugeben und zuzulassen, dass man sich selbst immer mal wieder abhanden kommt. S. 47

Er gibt sich dem Bestreben hin, seine eigene Trauer zu finden und zu begreifen, als auch die kollektive Unsicherheit, die auf den subapokalyptischen Zuständen fußt, und ebenso zu Traurigkeit führt. Er versucht die Chronologie unserer kollektiven Verluste zu rekonstruieren. Die Ära der Stabilität, sei spätestens seit der Pandemie, der russischen Bedrohung und den Auswirkungen des Klimawandels vorbei. All diese Kipppunkte, langsamer werdender Systeme, sprengen die Grenzen unserer Resilienz, der Fähigkeit, Krisen oder Katastrophen, ohne größere Beeinträchtigungen zu überstehen. 

Daniel Schreiber geht den Gründen unserer Vulnerabilität auf den Grund, deckt die Abwehrmechanismen auf, die verhindern, dass wir ins Mitgefühl gehen und findet Lösungsansätze, wie wir gesund durch diese Zeit der Verluste kommen, und doch auch Freude empfinden können.

Unser Gefüht psychischer Intaktheit können wir nur dann zurückerlangen, wenn wir anzunehmen lernen, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht reparieren, nicht wiedergutmachen, nicht besser oder rückgängig machen können. S. 107

Fazit: Daniel Schreiber hat sich in mein Herz geschrieben. Es ist ein so ungemein wichtiges Buch in diesen Zeiten der Endzeitprophezeihungen, die uns verunsichern und niederdrücken. In denen viele Menschen die Augen verschließen und den Kopf in den Sand stecken, weil sie mit der Vielzahl der Ereignisse überfordert sind und eben auch keine Lösung haben. 

Bevor ich dieses Buch gelesen habe, war mir nicht so klar, dass mein Schmerz und meine Hilflosigkeit gegenüber des ganzen Leids, nicht nur meiner ist, sondern, dass andere genauso empfinden. Insofern ist es ein verbindendes Buch, aber es kann noch mehr.

Daniel Schreiber gibt uns die Möglichkeit, zu erkennen, wie wir unsere Trauer verarbeiten, die Hoheit über Taubheit und Gefühlslosigkeit behalten, und dennoch oder gerade deswegen, ein lebenswertes Leben führen können, das uns aus der Erstarrung hinausführt.

Der Autor: Daniel Schreiber, geboren 1977, ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei WELTKUNST und ZEIT am Wochenende. Mit seinen hochgelobten und vielgelesenen Büchern Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch Allein (2021) stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestseller und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Er lebt in Berlin.

 

 

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