Mein Leben mit Autismus

Autismustagebuch

Horrorszenarien

Ich bin schnell überfordert. Ulf kündigt Handwerker an, die einen Teil unseres Hofs pflastern sollen. mein Kopf spult einen Film ab und zeigt mir, welche Schwierigkeiten sich auftun werden. 

Ich werde das Tor öffnen, wenn sie kommen. Sie laden den Bagger ab und koffern das Stück aus. Die Hunde müssen raus und ich gehe mit jedem einzelnen an der Leine, damit sie nicht vom Bagger angefahren werden. Dummerweise entwischt mir einer, rennt auf die Arbeiter zu und bellt. Einer der Männer fühlt sich bedroht und weil er Hunde nicht leiden kann, tritt er ihm zwischen die Hinterläufe. Mein Hund jault, winselt. Ich renne auf den Mann zu und trete ihm zwischen die Beine. Danach jage ich alle vom Hof.

Während mein Kopf sich dieses Szenario ausdenkt, gleichen meine Vitalwerte denen eines Amokläufers. Ich bin maximal gestresst, obwohl die Arbeiten noch nicht einmal begonnen haben. Wenn ich es endlich schaffe, aus meinem Film auszubrechen und mich durch Atemübungen runterzuregulieren -sechs Atemzüge pro Minute- bin ich erschöpft, als wäre ich einen Marathon gelaufen.

Minderwertigkeitsgefühle

Jede kleinste Unstimmigkeit mit Menschen, die ich gern habe, stresst mich. Ich fühle mich unzureichend, habe, wie immer, alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Ich bin schuld, verstehe, dass man mich jetzt nicht mehr liebhat und leide unter dem Gefühl, verlassen zu werden. Mir ist klar, dass es die Gefühle meiner Kindheit sind, dass meine Gedanken irrational sind.

Ich weiß, dass es normal ist, Fehler zu machen, dass sich Menschen deswegen nicht gleich distanzieren, wir zeigen alle einmal Fehlverhalten, aber die Gefühle sind trotzdem da.

Trauma

Manchmal werde ich nachts von meinem eigenen Schreien wach, weil ich im Traum bedroht werde. Wenn das passiert, nimmt Ulf mich in den Arm und sagt, dass alles gut sei. Damit gibt er mir die größtmögliche Sicherheit. Und dann kommt zwischendurch der Tag, an dem etwas aufblitzt, ein Stuhlbein, eine grölende Meute Männer, die eine Frau unflätig beschimpfen, schreien, schluchzen, wimmern. Dann weiß ich, dass Charles Bronson wieder rotsieht und in meinem Kopf nach den Mördern seiner Frau sucht. Meine größte Angst ist, die Kontrolle zu verlieren. Deshalb ist mein Körper immer in Alarmbereitschaft, Schulter- und Rückenmuskulatur sind bretthart, daran vermögen auch mein Laufträining und tägliches Schwimmen nichts zu ändern. Erst nach dem zweiten abendlichen Glas Wein kann ich meine Besorgnis gehen lassen.

Aus meinem Buch Mutterkuchen

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