Rezensionen Mutternichts

Mutternichts von Christine Vescoli

Autorin: Christine Vescoli, Genre: Fiktive, literarische Erzählung, Verlag: Otto Müller Verlag, ISBN: 978-3-7013-1314-3, 1. Auflage 2024, 168 Seiten, Preis Hardcover €24,00

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Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar. Nach dem Tod der Mutter fragt die Tochter sich, ob sie nun endlich sehen kann, was die Mutter hinter sich verborgen und worüber sie geschwiegen hat. Ihr bleiben nur wenige Erzählungen, geflüsterte Erinnerungen, ein paar Fotos und Zeitungsausschnitte. Die Mutter hat eine Kindheit voller Härte und Kälte auf einem fremden Hof in einem Südtiroler Seitental verbracht. Sie habe Gedichte in den Schnee geschrien und gegen den Frost angesungen – das hat die Mutter immer erzählt. Dass sie es gut hatte unter den fremden Menschen, ließ sie die Tochter glauben. Doch die glaubt es nicht mehr. Wie kann sie die Geschichte der Mutter erzählen, wo beginnen, was darf sie verknüpfen?
Denn erzählen muss sie endlich, bevor diese Tür sich für immer schließt. „Ich stemme einen Fuß dazwischen, klemme ihn zwischen Mutters sich auflösende Geschichte und mich.“ Wer also war sie? Die Erzählerin nähert sich Schritt für Schritt dem Leben der Mutter an, stets hinterfragend, ob es so gewesen sein könnte oder ob sie mittels ihrer Sprache eine bereits vorgeformte Wirklichkeit schafft, die sich mit der Wahrheit der Mutter nicht deckt.
„Mutternichts“ ist ein kraftvoll-poetisches Debüt. Christine Vescoli nimmt darin etwas so Altmodisches wie Gegenwärtiges neu in den Blick: die Liebesbeziehung zwischen Mutter und Tochter. (Klappentext)

Mutter war acht Jahre, als sie eine Dirn wurde. Ihre Eltern schickten sie zu fremden Bauern, auf einen großen Hof einige Kilometer entfernt. Das war nichts Ungewöhnliches. Familien, die nicht alle ihrer Kinder ernähren konnten brachten die Überzahl woanders unter. Befremdlich war, dass die Eltern nach Mutters Weggabe weitere Kinder bekamen. Und warum traf es ausgerechnet Mutter? Die Protagonistin fährt in das Tal, zu dem Hof, der Mutter verschluckte, sucht nach den Spuren, die Mutter in Nichts auflösten, nach Worten, die Mutters Schweigsamkeit begründen. 

Die Protagonistin möchte das Mutterrätsel über ihr Schreiben ergründen und hegt den Anspruch ihre Mutter so zu zeichnen, wie sie war und nicht, wie sie sie gern gehabt hätte. Sie versinkt in Erinnerungen und sieht Mutter, wie sie ihre Arbeit mit großer Sorgfalt und Dringlichkeit erledigte. Wie sie an Karfreitagen im Haus schuftete und danach mit großer Ernsthaftigkeit betete. Mit dem Vorrücken der Zeiger sank ihre Stimmung, bis sie zu der Stunde als der Heiland ans Kreuz geschlagen wurde, langsam aus ihrer Erstarrung erwachte. 

Ich hörte Mutter lautlos beten. Am Morgen am Tisch. In der Stube, wo die Uhr laut tickte und in die Stille schlug. S. 133

Die Bäuerin auf dem Hof soll eine bösartige Frau gewesen sein. So oft es ging lief Mutter bei Wind und Wetter zu ihrer Familie. Sang laut gegen ihre zahlreichen Ängste an und schrie Gedichtzeilen in die Luft. Doch Zuhause lud niemand sie ein zu bleiben. Sie gehörte nirgendwohin, war überflüssig und wertlos. 

Fazit: Ich liebe diese Geschichte! Selten habe ich so eine Sicherheit im Umgang mit Worten erlebt. Die Autorin schreibt sich mit wortgewandter Poesie durch diese Geschichte, die von Anfang bis Ende überzeugt. Die Sprachbilder sind sinnlich und wecken Bilder und Gefühle. Die Autorin schreibt über schlimme Dinge ohne jeden Pathos, sondern mit einer Ruhe, die mich eines Spaziergangs gleich, durch die Zeilen führt. In ihrer Sprachmelodie glaube ich einen Österreichischen Dialekt zu hören. Die Reise von der Tochter zur Mutter deckt die Vergangenheit bis zu ihren Urgroßeltern auf. Es ist eine der schönsten Vergangenheitsbewältigungen, die ich je gelesen habe. Jeder Satz ein Genuss.

Die Autorin: Geboren in Bozen, Studium der Deutschen Literatur und Kunstgeschichte in Wien mit einer Abschlussarbeit zu Robert Walser. Tätigkeit im Lektorat und Unterricht an Gymnasien sowie als Publizistin mit Literaturkritiken für die „Neue Südtiroler Tageszeitung“. Seit 2009 Leiterin von Literatur Lana und Kuratorin der Literaturtage Lana. Begleitende Texte und Hefte der Reihe „Adligat“, zuletzt „Was für Sätze. Zu Ilse Aichinger“ (Hrsg. mit Theresia Prammer, Wien 2023). Sie lebt in Bozen.

 

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